Spielrunde, abendliches Vorlesen, Straßenbahn, Spielplatz


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Sequenz 1 Spielrunde Acht Kinder und Jugendliche der Wohngruppe in Berlin äußern an einem Dienstagabend im November den Wunsch, nach dem Abendessen ein Spiel namens „Werwolf“ etagen- übergreifend zu spielen. Das Alter der Kinder ist zwischen 9 und 14 Jahren. Die Gruppe besteht aus fünf Jungs und drei Mädchen. Zusammen mit einer weiteren festangestellten Betreuerin versammeln wir uns mit den Kindern im Wohnzimmer der Wohngruppe. Die Stimmung der Kinder ist gut und ausgelassen. Am Spiel nimmt auch Kind A teil. Es betei- ligt sich aktiv am Spiel. Dabei wirkt es motiviert und fröhlich. Nach einigen Spielrunden fällt auf, dass der Gesichtsausdruck des Kindes A an Ausdruck verliert. Die Stimmung der anderen Kinder ist weiterhin ausgelassen. Während wir spielen, kommt eine dritte festan- gestellte Betreuerin in den Raum und erinnert Kind A an einen für diesen Abend verabre- deten Telefontermin mit seinen Eltern. Die Betreuerin verlässt den Raum, befindet sich jedoch noch in Sichtnähe auf dem Flur, da die Tür des Wohnzimmers offensteht. Sie un- terhält sich mit einem festangestellten Betreuer. Das Kind A steht auf und verlässt wortlos den Raum. Die Kinder im Wohnzimmer spielen unbehelligt weiter. Ich bekomme mit, dass Kind A zur dritten Betreuerin auf dem Flur geht und sagt: „Bitte sag Mama und Papa nicht, dass ich gerade Spaß hatte“. Ich kann mich nicht weiter auf das Gespräch konzentrieren, da wir noch spielen und ich an der Reihe bin. Das Kind kehrt nicht zum Spiel zurück.

 

Deutung der Sequenz 1: Spielrunde

Zunächst kann sich Kind A auf das gemeinsame Spiel emotional einlassen, was an der aktiven Spielbeteiligung und am deutlich erkennbaren Spaßempfinden zu beobachten ist. Mit der Zeit scheint sich Kind A jedoch mental zu entziehen. Darauf deutet der immer stär- ker verblassende Gesichtsausdruck des Kindes während des Spiels hin. Möglicherweise setzt sich das Kind innerlich bereits mit dem anstehenden Telefontermin auseinander. Die Situation verändert sich durch die konkrete Erinnerung an den Telefontermin. Die Erinne- rung bewegt das Kind zum wortlosen Abbruch der Spielteilnahme, um die dritte Betreuerin zu bitten, den Eltern nichts von dem eben erlebten Spaß zu berichten. Diese Aussage lässt eine Angst im Kind vermuten, die Eltern würden Spaß in der Wohngruppe womöglich nicht gutheißen, wenn sie davon erführen. Dies stellt sich mir als ein Ausdruck eines star- ken inneren Loyalitätskonfliktes dar, welcher durch die ursprünglich freiwillige Spielteil- nahme von Ambivalenz geprägt scheint.

Sequenz 2: Abendliches Vorlesen

An einem Mittwochabend im September fragt mich eine Betreuerin, ob ich Kind A eine Gute-Nacht-Geschichte vorlesen könne, wozu ich mich sofort bereit erkläre. Das Kind äußert diesen Wunsch gegenüber der Betreuerin. Ich gehe zu Kind A, welches bereits zugedeckt im Bett liegt. Das Kind liegt mit dem Rücken zu mir und sucht keinen Augen- kontakt. Ich begrüße das Kind und frage es, ob es aus einem speziellen Buch vorgelesen bekommen möchte. Das Kind zuckt mit den Schultern. Ich gehe zu seinem Bücherregal und suche ein Buch aus. Dieses stelle ich dem Kind vor, indem ich den Buchtitel vorlese und frage, ob es das Buch kenne und mit der Auswahl einverstanden sei. Es bleibt be- wegungslos im Bett liegen und antwortet mir, dass es ihm egal sei. Ich setze mich an sei- ne Bettkante, sage dem Kind, dass ich nun zu lesen beginne und es mich informieren soll, wenn es aus einem anderen Buch vorgelesen bekommen möchte. Während der ge- samten Vorlesezeit, dreht sich Kind A nicht zu mir um oder kommentiert die Handlung des Buches. Zwischenzeitlich frage ich, ob Kind A eingeschlafen sei. Kind A ist wach und liegt noch immer mit dem Rücken zu mir. Nach einer Weile des Vorlesens, frage ich, ob Kind A noch weiter vorgelesen bekommen möchte oder ob ich aufhören solle. Wiederum entgegnet es, dass es ihm egal sei. Hierauf frage ich das Kind, ob es ihm egal sei, ob ich aufhöre zu lesen oder mit dem Lesen fortfahren solle. Das Kind zuckt bloß mit den Schul- tern und äußert erneut, dass es ihm egal sei. Da die Bettruhe naht, teile ich dem Kind mit, dass ich das Vorlesen nun beende. Darauf zeigt es keine Reaktion. Ich decke das Kind noch einmal an allen Stellen zu und wünsche ihm nach der Äußerung „ich hoffe Dir hat die Geschichte gefallen“ eine Gute Nacht und schöne Träume. Das Kind antwortet mir 14

nicht und verharrt regungslos auf der Seite liegend in seiner Position im Bett. Ich lege das Buch auf seinen Schreibtisch und gehe leise aus dem Zimmer.

Deutung der Sequenz 2: Abendliches Vorlesen

Kind A zeigt sich von Anbeginn der Sequenz körperlich abgegrenzt und emotional distan- ziert. Zu keinem Zeitpunkt besteht zwischen uns Augenkontakt. Das Kind kommuniziert mit mir vorwiegend durch Körpersprache und kaum verbal. Der verbale Austausch be- grenzt sich seitens des Kindes auf den Zweiwortsatz „Mir egal.“. Sein demonstrativ nach Außen getragenes, als Desinteresse interpretierbares Verhalten, kann als ein emotionaler Schutzmechanismus verstanden werden, den das Kind anwendet, um eine Distanz zwi- schen ihm und mir aufzubauen. Dies scheint aus der Sicht des Kindes notwendig, da ich in seinem Umfeld eine relativ unbekannte Person in einem professionellen Kontext bin. Hinzu kommt, dass ich eine Praktikantin bin. Erwähnung findet dies, da das Kind zwi- schen Betreuer:Innen und Praktikant:Innen differenziert. Das Kind selbst lebt zu diesem Zeitpunkt seit bereits vier Monaten in der Einrichtung und hat viel Zeit benötigt, sich der Wohngruppe zu öffnen und Angebote anzunehmen.

 

 Sequenz 1: Straßenbahn

An einem Dienstag im August hole ich Kind B von der Schule ab. Zusammen steigen wir in die Straßenbahn. Das Kind B beginnt sich mit dem an der Scheibe klebenden Schie- nennetz der Straßenbahn auseinanderzusetzen und fragt mich, wo eine bestimmte Stati- on auf dem Schienennetz sei. Ich gucke mir das Schienennetz genauer an und zeige mit dem Finger auf die gewünschte Station. Wir stehen im Bereich, der für Fahrräder und Kinderwägen vorgesehen ist. Dort ist auch eine gepolsterte Rückenlehne. Auf diese Rü- ckenlehne klettert das Kind, um die von mir angezeigte Station besser sehen zu können. Ich frage das Kind, um was für eine Station es sich bei der vom Kind erfragten denn han- dele. Hierauf entgegnet Kind B, dass dies „seine“ Station sei und sich sein Zuhause dort befinde. Im selben Bereich der Straßenbahn sind kleine gedruckte Hefte des Verkehrsbe- triebes ausgelegt. Das Kind sieht sich ein Heft an und findet darin ebenfalls ein abgebilde- tes Schienennetz der Straßenbahn. Das Kind fragt mich erneut, wo seine Station sei und ob ich diese für das Kind B mit einem Stift einkreisen könne. Diesem Wunsch komme ich nach und lege das Heft in seine Schulmappe. Das Kind B ist nun mit der Aussicht aus der Straßenbahn beschäftigt und spricht bis zur Ankunft in der Wohngruppe wenig mit mir.

 Deutung der Sequenz 1: Straßenbahn

Der Rückweg von der Schule zur Wohngruppe scheint in dem Kind Assoziationen mit sei- nem elterlichen Wohnhaus hervorzurufen, da Teile der Strecke mit dem regulären Rück- weg zur elterlichen Wohnung identisch sind. Dass das Kind das Schienennetz so intensiv betrachtet und sich nach dem Standort „seiner“ Station erkundigt, lässt die Annahme zu, dass die unmittelbare Konfrontation mit der bekannten Umgebung Sehnsuchts-Gefühle in dem Kind auslösen. Das in der Straßenbahn angebrachte Schienennetz ist eine verein- fachte Netzwerkdarstellung einer komplexen Infrastruktur des öffentlichen Personennah- verkehrs. Diese Infrastruktur weist mehrere sich überschneidende Linien und Stationen auf, welche für Individuen von unterschiedlicher Bedeutung sein können. Die Auseinan- dersetzung mit dem Schienennetz scheint hier eine symbolische emotionale Selbstregula- tion zu sein, um mögliche Gefühle der Sehnsucht innerhalb des Kindes zu bewältigen. Das Kind betrachtet die womöglich für ihn bedeutendste Station seiner emotionalen Infra- struktur heraus. So kann es visuell jedenfalls für den Moment die räumliche Trennung zu seinen Eltern überwinden. Die Mitnahme der Printversion des Schienennetzes, mit Mar- kierung der heimischen Station, scheint mir eine weitere mobile Methode zur Überbrü- ckung von Distanzen. Diese könnte bei einem erneuten Ausbruch von Gefühlen der Sehnsucht herangezogen werden. Letztlich flacht die Unterhaltung mit dem Kind ab, was

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ein weiterer Hinweis auf eine innerliche Auseinandersetzung mit seinen aktuellen Emotio- nen sein kann.

Sequenz 2: Spielplatz

Anfang September berichtete mir Kind B mehrfach von einem Spielplatz, auf welchen es gerne gehen würde. Als es erneut von dem Spielplatz erzählt, frage ich Kind B, ob dieser Spielplatz in der Nähe der Wohngruppe sei. Falls ja, könne man gerne einen Ausflug dorthin unternehmen. Das Kind B bejaht meine Frage und sagt, man müsse nur wenige Stationen mit der Straßenbahn fahren. Laut Aussage des Kindes B ist der Spielplatz sehr groß und habe „viele Sachen“. Ich frage das Kind, ob es mir den Weg möglicherweise im Internet auf der Karte zeigen könne, um mir einen besseren Eindruck über den genauen Standort des Spielplatzes zu verschaffen. Anhand der mündlichen Beschreibung des Kin- des B kann ich den Spielplatz nicht lokalisieren. Zusammen mit einer weiteren Betreuerin, gehen wir im Internet den Weg gemeinsam virtuell am Computer im Büro ab. Nach einer Weile stoßen wir auf den Spielplatz. Der Spielplatz ist nicht, wie vom Kind B beschrieben, innerhalb weniger Stationen erreichbar. Auf den Satellitenfotos erkennen wir eine freiste- hende Schaukel, einen kleinen Sandkasten und eine Rutsche. Das Gelände des Spiel- platzes stimmt nicht mit den Beschreibungen des Kindes B überein. Bei genauerer Be- trachtung fällt der anderen Betreuerin auf, dass sich der Spielplatz in der unmittelbaren Nähe zum Elternhaus des Kindes befindet. Die Betreuerin zeigt mit dem Finger auf das betreffende Haus auf den Satellitenfotos und spricht das Kind nett auf diese Beobachtung an. Kind B antwortet zunächst nicht und schaut weiter auf den Bildschirm mit der Satelli- tendarstellung. Die anwesende Betreuerin fragt Kind B freundlich, ob es gerade auf die- sen Spielplatz wolle, da er sich in der Nähe seiner Mutter befinde. Wieder äußert sich das Kind nicht. Es hält die Hände zusammen auf Brusthöhe und guckt abwechselnd vom Bild- schirm zu uns. Die Betreuerin sagt zu Kind B: „Ich glaube, ich weiß, warum du auf diesen Spielplatz möchtest. Guck mal, du bist doch am Wochenende wieder zu Hause und dann kannst du Mama fragen, ob sie mit dir auf den Spielplatz geht. Wir können nicht dorthin und er ist auch leider wirklich zu weit. Der ist eher was für kleinere Kinder.“

 Deutung der Sequenz 2: Spielplatz

Der Wunsch, den Wahlspielplatz des Kindes aufzusuchen, scheint mir angetrieben durch Sehnsuchts-Gefühle. Womöglich verknüpft das Kind den Spielplatz mit besonderen Emo- tionen, welche es im Zusammenhang mit seiner Mutter und dem naheliegenden elterli- chen Wohnort sammelte. Dem zufolge steht der Spielplatz höchstwahrscheinlich für einen 18

Ort positiver Erinnerungen und Empfindungen. Um die Gefühle der Sehnsucht zu stillen, versucht das Kind den Spielplatz aufzusuchen, um so möglicherweise die räumliche Dis- tanz zwischen ihm und seiner Mutter und dem ursprünglichen Wohnort zu verkleinern. Es ist davon auszugehen, dass das Kind um die Tatsache weiß, dass der Spielplatz und die elterliche Wohnung nah beieinander liegen. Möglicherweise hat das Kind seine ursprüng- lichen Motive, die Mutter zu erblicken oder der elterlichen Wohnung näher zu kommen, nicht transparent formuliert, um keine grundsätzliche Absage des Besuches des Spielplat- zes zu erhalten. Die Schilderung, dass es sich um einen „großen“ Spielplatz mit vielen „Sachen“ handele, kann aus der Perspektive des Kindes nachvollzogen werden. Für das Kind handelt es sich durch den emotionalen Bezug zum Spielplatz durchaus um einen Ort von Bedeutung, um seine Sehnsucht zu befrieden.