Reflexion der Situation „Keine Waffel für Mia“

Reflexion der Situation „Keine Waffel für Mia“

In der beschriebenen Situation „Keine Waffel für Mia“ zeigen sich unterschiedliche Themenbereiche, welche aus kindheitswissenschaftlicher Sicht sehr interessant sind.

Bei der Analyse der Situation wurde im Sinne der Dokumentarischen Methode vorgegangen: Im ersten Schritt wurden Besonderheiten der Situation markiert und der Frage nachgegangen Was geschrieben wird. Im zweiten Schritt wurden die besonderen Textabschnitte und Sätze anhand der Frage danach analysiert, wie geschrieben wurde. Dabei sind verschiedene Themenbereiche aufgefallen, die gebündelt behandelt wurden. Um die Darstellung kürzer und besser lesbar zu machen, soll der Schritt der Wiedergabe des Inhalts in dieser Reflexion insoweit übersprungen werden, als dass die Beschreibung des Was in Verbindung mit der Beantwortung des Wies erfolgt.

Folgende Themenbereiche wurden bei der Analyse berücksichtigt: Die generationale Ordnung bzw. das generationale Machtverhältnis, das Bild vom Kind in der Einrichtung Kindergarten sowie Vorstellungen von guter Ernährung.

Die generationale Ordnung wird an unterschiedlichen Punkten sichtbar, jedoch vor Allem dann, wenn im Text vom Verhältnis zwischen Autor*in und dem Kind sowie zur Fachkraft die Rede ist.

Unter generationaler Ordnung versteht man in den Kindheitswissenschaften die „komplexe Menge sozialer (relationaler) Prozesse, durch die einige Personen zu „Kindern“ gemacht bzw. „konstruiert“ werden, während andere zu „Erwachsenen“ gemacht oder „konstruiert“ (Alanen 2005, S. 79). Kinder und Erwachsene werden als generationale Kategorien verstanden. d.h., sie agieren von bestimmten wechselseitig zugeschriebenen Positionen aus. Im Prozess des generationing reproduzieren und verändern sie ggf. das derzeit bestehende Verhältnis (vgl. Hengst & Zeiher 2005, S. 19).

So hat die Fachkraft – als Person, welche älter und mehr Arbeitserfahrung hat als der*die Praktikant*In – ganz eindeutig das letzte Wort, was sich insbesondere im dritten Absatz (Zeile 10-11) und später nochmal im nächsten Absatz (Zeile 15-18) zeigt. Sie nutzt ihre Autorität nicht nur dem Kind gegenüber, sondern geht darüber hinaus auch nicht auf das Kind ein, wenn er*sie sagt „Mia, hör auf zu weinen und fang mit dem Essen an. Dir hat keiner was getan“ (Zeile 11f.).

In dem dritten Absatz fragt die Fachkraft nicht nach den Handlungsmotiven des*der Praktikanten*In, sondern interpretiert das Holen der Waffel aus dem Rucksack und deren Übergabe an Mia als Affront gegen die Einstellung der Einrichtung. Dies wird mit dem Satz „In unserer Einrichtung legen wir einen großen Wert auf gesunde Ernährung und das wissen die Eltern auch!“ (Zeile 16ff.) deutlich, da die Fachkraft auf eine anscheinend kommunizierte Leitlinie der Einrichtung hinweist, welche sowohl den Eltern als auch dem*der Praktikant*In bekannt sein sollte. Dem geht offenbar sowohl ein Übereinkommen der Fachkräfte darüber voraus, was in der Einrichtung als gesunde Ernährung bezeichnet wird, als auch die Übermittlung dieser Einstellung an die Eltern und eine entsprechende normative Erwartung an die Eltern, wobei dies bei einem anderen Kind nicht so eng gesehen und durchgesetzt wird (Z. 2f.). Auf das Thema „Gesunde Ernährung“ werde ich später jedoch nochmal genauer eingehen. An dieser Stelle ist das Verhältnis zu den Eltern sehr interessant, da die Einrichtung und in dieser die Fachkräfte Einfluss auf die Erziehung der Eltern nehmen, wenn Vorschriften gemacht und Werte übermittelt werden.

Die Einrichtung beansprucht also Autorität und Macht und sucht das Verhalten der Familien zu beeinflussen und zu normieren. So verkörpert die Einrichtung einerseits eine historisch gewachsene institutionalisierte Macht, welche sich durch Entpersonalisierung, Formalisierung und Integrierung auszeichnet und durch welche sich die Macht verfestigt hat. Das bedeutet, dass Macht nicht länger an Personen, sondern an Positionen gebunden ist, Regeln und Rituale eingeführt wurden, sowie Macht und die soziale Ordnung in der Einrichtung voneinander abhängig sind und sich gegenseitig sichern. Andererseits hat die Fachkraft autoritative Macht, da sie die Maßstäbe für das Handeln des*der Praktikant*In setzt und diesen gefolgt wird. (vgl. Popitz 1986, S. 38ff.)

Da nicht von einem Gespräch mit den Eltern berichtet wird, in welchem erklärt wird, warum die Waffel am Ende des Tages noch in Mias Brotdose ist oder ein Hinweis erfolgt, dass das Mitbringen oder der Verzehr von Waffeln in der Einrichtung nicht gern gesehen werden, deutet an, dass sich die Einrichtung den Eltern gegenüber nicht als rechenschaftspflichtig dafür sieht.

Es scheint, als fühle sich die Fachkraft von dem*der Praktikant*In angegriffen, als der*die Praktikant*In die Waffel aus dem Rucksack holt und auf das Weinen von Mia eingeht, obwohl das Problem für die Fachkraft mit dem bereits zitiertem Satz aus Zeile 11f. bereits gelöst zu sein scheint. Für den*die Praktikant*In wird in dem Moment jedoch klar, dass der Deal, morgens mit Mia geschlossen, durch das Einschreiten der Fachkraft unwirksam geworden ist und die eigene Handlungsstrategie nicht zu verwirklichen ist.

Die Fachkraft schreibt dem*der Praktikant*In vor, die Waffel wieder zurück in Mias Rucksack zu bringen und ihre Aktion rückgängig zu machen. Durch die Aufforderung positioniert sich die Fachkraft wieder als Autorität. Da der*die Praktikant*In nicht darum gebeten wird, sondern dies als Aufforderung aufnimmt und dieser ohne Widerworte nachkommt, zeigt sich die Anerkennung dieser Autorität. Der*die Praktikant*in handelt in diesem Moment entgegen der eigenen Überzeugung und unterwirft sich den Vorgaben der Fachkraft.

Dies drückt sich auch in der Frage aus, ob er*sie sich mehr für Mias Interessen hätte einsetzen sollen. Dies wäre aus Sicht einer anwaltschaftlichen Vertretung des Kindes sehr zu begrüßen gewesen. Da im Nachhinein nicht das Gespräch mit der Fachkraft gesucht wurde, um in einem ruhigen Moment nochmals über die Situation zu sprechen, ändert sich auch am Machtverhältnis zwischen Praktikant*In und Fachkraft nichts. Die Situation hätte ebenfalls gut in einer Teamsitzung oder im Sinne einer Kollegialen Fallberatung als Gesprächsanlass genommen werden können. Hier wäre es gut, wenn es in der Einrichtung ein Qualitätsmanagement geben würde, zu welchem regelmäßige Teambesprechungen, Kollegiale Fallberatung oder auch externe Supervision möglich wären, um sowohl über einen wertschätzenden Umgang sowie über Regeln und den Umgang mit Ausnahmen oder Regelverstößen auszutauschen und eine gemeinsame Richtschnur zu entwickeln.

Mit dem Durchsetzen der Regel „In der Einrichtung gibt es ausschließlich gesunde Ernährung“ gegenüber Mia und dem anderen Kind, welches als Kontrast genannt wird, da es jeden Tag „Müsli, Kuchen oder Schokoriegel“ in der Einrichtung isst (Z.2f.), zeigt sich ein gewisser Doppelstandard. Zwar heißt es im Text, dass die Eltern des Kindes von der Missbilligung dieser Ernährung der Fachkräfte wissen. Trotzdem darf dieses Kind die mitgebrachten Dinge essen, während Mias Waffel aktiv weggenommen wird.

Durch diesen Kontrast wird ebenfalls deutlich, wie das Frühstück im Kindergarten organisiert wird: Die Kinder bringen ein Frühstück von zu Hause mit. Dadurch ist fraglich, woher die Fachkräfte diese Autorität bekommen, diesem Frühstück Regeln vorzuschreiben, da sie ja nicht für das Frühstück zuständig sind. Es gibt in anderen Kindergärten das Modell, dass das Frühstück vom Kindergarten gestellt wird, sodass die Einrichtung Einfluss darauf nehmen kann, was angeboten wird und was nicht.

Bei Mia ist unklar, inwieweit sie mitbekommt, dass das andere Kind ein süßes Frühstück essen darf und ihre Waffel entzogen wird und ihr Standardfrühstück – bestehend aus Vollkornbrot mit Käse oder Wurst – essen muss. Ihr wird dieser Doppelstandard nicht erklärt und darüber hinaus wird nicht auf ihr Weinen eingegangen und sie darf am Ende die Waffel nicht essen. Es zeigt sich ein Bild vom Kind, welches nicht über seine eigene Ernährung entscheiden darf und den Vorgaben der Erwachsenen unterworfen ist. Absprachen, auf welche sich Mia einlässt und verlässt, können nicht eingehalten werden, weil diese Person im Endeffekt nicht die end- gültige Entscheidungsgewalt trägt. Durch die Einschätzung, dass Weinen nach dem Mittagsschlaf nicht ungewöhnlich für Mia ist, wird darüber hinaus deutlich, welches Verhalten von Kindern im Kindergarten bevorzugt wird. So sollen Kinder insbesondere nicht grundlos weinen, was sich in dem Satz „Dir hat keiner was getan“ (Z. 12) zeigt.

Mia wird keinerlei Möglichkeit gegeben sich an den sie betreffenden Entscheidungen zu beteiligen, sondern diese werden über ihren Kopf hinweg getroffen und sie soll damit zurecht- kommen und kein Missfallen zeigen. Dies steht klar im Kontrast zu Artikel 12 der UN-Kinderrechtskonvention (KRK), wenn es heißt „dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife“. So hat Mia weder die Chance sich zu äußern, noch wird ihre Bewertung der Situation – das Weinen kann als Äußerung von Missfallen ausgelegt werden – ernstgenommen und berücksichtigt.

An diesem Beispiel wird auch ein klassisches Spannungsfeld der Kindheitswissenschaften deutlich, da das Handeln oftmals zwischen Kindeswohl und Kindeswille geschieht, in welchem ausgehandelt werden muss, wie Situationen bewertet werden und sich das Handeln ausrichtet. Dadurch das Mia aber nicht jeden Tag eine Waffel von ihren Eltern mitgegeben bekommt und sonst gesundes Essen in der Einrichtung isst, besteht kein Grund dem Kindeswillen nachzukommen, da keine nachhaltig negativen Konsequenzen für das Kindeswohl zu befürchten sind. Das Recht auf gesunde Ernährung lässt sich aus zwei Kinderrechten der UN-KRK ableiten. Da ist zum einen das Recht auf Gesundheit (Art. 24 UN-KRK) und zum Anderen das Recht auf angemessene Lebensbedingungen (Art. 27 UN-KRK), welche auf eine bestmögliche Entwicklung und Gesundheit abzielen und alle Einrichtungen und Institutionen dazu aufrufen, für die Verwirklichung dieser Rechte einzustehen und mitzuwirken. Von daher ist es positiv zu bewerten, dass die Einrichtung und deren Fachkräfte für eine gesunde Ernährung der Kinder tätig werden. Jedoch muss nicht davon ausgegangen werden, dass der einmalige oder seltene Verzehr einer Waffel einer gesunden Ernährung grundsätzlich widerspricht. Es wird deutlich, dass in der Einrichtung gesunde Ernährung durch Vorschriften an die Eltern und Verbote gegenüber den Kindern gelebt wird.

So illustriert die „Ernährungspyramide“ (Bundeszentrum für Ernährung (2020) modellhaft, wie ausgewogenes Essen aussehen kann (vgl. https://www.bzfe.de/ernaehrung/die-ernaehrungspyramide/die-ernaehrungspyramide-eine-fuer-alle/). Gemäß dieser Pyramide gehört auch der Verzehr von gesüßten Speisen sehr wohl zur Ernährung dazu, wenn auch nur selten. Der*Die Praktikant*In beschreibt jedoch, dass Mia meist Vollkornbrot mit Käse oder Wurst mitbringt, sodass die Waffel eine Ausnahme darstellt.

So beschreibt Seehaus in ihrem Artikel zu Erziehung und Bildung am Mittagstisch, dass das primäre Ziel der schulischen Verpflegung die „(Um-)Gewöhnung von Kindern an gesunde Speisen“ (Seehaus 2014, S. 129) darstellt. Der Verpflegung in den Einrichtungen wird dabei eine „doppelte ‚Errettungsfunktion‘ zugeschrieben. Sie soll „potentielle elterliche Erziehungsdefizite kompensieren und die Kinder richtig ernähren“ (ebd.). Dieses Motiv zeigt sich zumindest Mia gegenüber in der beschriebenen Situation, da sie von dem Verzehr der Waffel abgehalten (oder errettet) wird.

Hilfreich könnte sein, im Team noch einmal über den Umgang von mitgebrachten Süßspeisen zu sprechen, um entsprechende Regeln zu diskutieren. Diese Regeln sollten mit den Eltern kommuniziert werden. Hierzu gehört ebenfalls der Umgang mit Missachtung der Regeln und der Möglichkeit von Ausnahmen. Es wäre aus kinderrechtlicher Perspektive nötig, nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder in diesen Entscheidungsprozess miteinzubeziehen und mitentscheiden zu lassen.

Durch den starken Kontrast in der Erzählweise zwischen Situationsbeschreibung und „eigene[m] Kommentar“ wird deutlich, dass diese Situation eine problematische Situation darstellt. Es scheint, als sei der*die Praktikant*In noch sehr mit der Situation beschäftigt  und haderte mit dem eigenem Handeln..

Dieses Hadern ist aus professioneller Sicht sehr zu begrüßen, da hierin die Möglichkeit be- steht über das Vergangene nachzudenken und die eigenen Motive und Handlungsorientierungen mit dem tatsächlichen Handeln abzugleichen. Dieser Reflexion liegt die Chance inne zukünftig anders zu handeln und den eigenen Orientierungen und moralischen Anforderungen anzupassen. Der Prozess der Reflexion ist für die eigene professionelle Entwicklung wichtig, da so eine tiefergehende Auseinandersetzung mit der Theorie und einer persönliche Weiterentwicklung Raum gegeben wird.

Literatur

Alanen, Leena (2005): Kindheit als generationales Konzept. In: Heinz Hengst und Helga Zeiher (Hg.): Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. .

Bundeszentrum für Ernährung (Hg.) (2020): Die Ernährungspyramide. Online verfügbar unter https://www.bzfe.de/ernaehrung/die-ernaehrungspyramide/die-ernaehrungspyramide-eine- fuer-alle/ (Abrufam 09.08.2022).

Hengst, Heinz; Zeiher, Helga (Hg.) (2005): Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften..

Hengst, Heinz; Zeiher, Helga (2005): Von Kinderwissenschaften zu generationalen Analysen. Einleitung. In: Heinz Hengst und Helga Zeiher (Hg.): Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. .

Kompetenzzentrum Frühe Bildung (Hg.): Keine Waffel für Mia. Hochschule Magdeburg-Stendal. Online verfügbar unter https://projekte2.hs-magdeburg.de/praxisreflektiert/edu- case/keine-waffel-fuer-mia/, (Abruf am 15.08.2022).

Popitz, Heinrich (1986): Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt – Technik. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

Seehaus, Rhea (2014): Erziehung und Bildung am Mittagstisch. In: Soz Passagen 6 (1), S. 125–140. DOI: 10.1007/s12592-014-0157-7. (Abruf am:

Die vollständige Arbeit finden Sie hier.

Empfohlene Zitation:

Hochschule Magdeburg-Stendal/Kompetenzzentrum Frühe Bildung (Hrsg.): Keine Waffel für Mia. In: Online-Forum „Praxis reflektiert“ https://projekte2.hs-magdeburg.de/praxisreflektiert/edu- case/keine-waffel-fuer-mia/


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