Zwischen Freiheit und Zwang


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Ich habe mein Auslandspraktikum in einer österreichischen Stadt in einer privaten Krabbelgruppe für die 0-3 Jährigen absolviert und mich während des Praktikums dazu entschieden, ein Angebot mit den Kindern zu machen. Auf einem großen Abschnitt Tapete habe ich zusammen mit den Jungen und Mädchen ihre Handinnenflächen mit verschiedenen Farben, die sie sich selbst aussuchen konnten, bemalt, um anschließend den Handabdruck auf der Tapete zu verewigen.

Nun fehlte nur noch der Handabdruck von Julian (2). Als er gegen 8.30 Uhr von seiner Mutter in die Krabbelgruppe gebracht wurde, gab ich ihm etwas Zeit, um in aller Ruhe anzukommen. Dann kniete ich mich hin und sagte zu Julian: „Julian, ich habe eine ganz tolle Idee: Wir malen deine Hand mit einer ganz schönen Farbe an und legen sie dann auf die Tapete. Du brauchst auch gar keine Angst haben, die Farbe waschen wir dann wieder ab mit Wasser.“ Julian schaute mich mit ernster Miene an und sagte: „Nein!“ Ich nahm ihn in meinen linken Arm und sagte: „Schau mal Julian, die anderen Kinder haben das auch schon gemacht und es schaut so lustig aus, wenn die Hände ganz bunt sind.“
Dann nahm ich seine Hand und redete ihm gut zu: „Komm, wir schauen uns mal an, wie die anderen Kinder das gemacht haben.“ Doch Julian zog seine Hand zurück und sagte erneut nein. Dann griff meine Kollegin ein und auch sie versuchte vergebens, ihn davon zu überzeugen, es sich anzusehen oder gar zu probieren. Wenig später kam die Chefin in die Krabbelgruppe und sah mich mit Julian, wie ich erneut versuchte, ihn an die Hand zu nehmen. Da es bereits kurz vor 9 Uhr war und der Morgenkreis gleich begann, kam meine Chefin auf mich zu und fragte, was denn los sei. Ich erklärte ihr die Situation, dass ich Julian von meinem Vorhaben nicht überzeugen konnte, ihn aber auch nicht dazu zwingen wollte. Sie meinte daraufhin zu mir: „Wir haben keine Zeit und wollen mit dem Morgenkreis beginnen.“ Dann packte sie Julian unter den Armen und setzte ihn auf den Stuhl mit den Worten: „So machen wir das hier!“


Eine Reflexion

  1. Reflexion: Zwischen Freiheit und Zwang

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    Studentisches Protokoll einer Reflexion im BA Angewandte Kindheitswissenschaften

    Vorgehen:
    Anfänglich teilten wir die Situationsbeschreibung in einen Ablauf ein, begonnen mit der Rahmung der Strukturen, dann die Ankunft des Kindes, als nächsten Teil die Ideenvorstellung, bei der die Praktikantin mit den Kindern kommuniziert, das Angebot vorstellt, sowie versucht Überzeugungsarbeit zu leisten. Die vierte Phase ist das Eingreifen der Kollegin und als letzte Phase das Eingreifen der Chefin. Somit baut sich die Situation weiter auf bis zur höchsten Instanz der Kita.

    Rahmung: Zeilen 1-7
    Am Anfang wird erklärt, dass das Angebot, der Handabdrücke der Kinder auf der Tapete, ein freiwilliges ist, ohne Pflicht der Kinder zur Teilnahme.
    Ankunft des Kindes: Zeilen 9-11
    Der Satz „Nun fehlte nur noch der Handabdruck von Julian“, birgt einen Vollständigkeitsanspruch in sich, der im Kontrast zur freiwilligen Rahmung des Angebotes steht. Ziel ist offenbar, alle Kinder mit dem Angebot anzusprechen. Im zweiten Satz zeigt sich die Annahme, dass Kinder einige Zeit brauchen um anzukommen. Dabei stellte sich uns die Frage, woran man erkennt, ob ein Kind in der Einrichtung ‚angekommen‘ ist. Eine Antwort könnte sein: Wenn sich das Kind auf andere Personen (außer seinen Eltern) oder Gegenstände in der Einrichtung einlässt. Weiterhin ist am zweiten Satz erkennbar, dass die Pädagogin entscheidet, wie es weiter gehen könnte. Daran wird die Hierarchie von Erwachsenen gegenüber Kindern deutlich. Sie zeigt sich auch daran, dass die Mutter das Kind in die Kita bringt und Julian nicht selbst hin geht (Erwachsene führen das Kind/ die Situation). Die Praktikantin positioniert sich mit ihrer Beschreibung also als Pädagogin.
    Ideenvorstellung durch Praktikantin: Zeilen 11-20
    Die Praktikantin kniet sich vor Julian, begibt sich damit auf Augenhöhe und wendet sich dem Kind zu. Es wurden hypothetische Möglichkeiten (Lesarten) für Situationen gesammelt, in denen man sich hin kniet: Betteln, sich entschuldigen, einen Heiratsantrag machen, Verehrung ausdrücken, einen (unterwürfigen) Kontakt aufnehmen. Alle diese Möglichkeiten haben gemeinsam, dass bei ihnen eine Hierarchie zwischen Personen verkleinert oder vergrößert wird. Hier wird die Hierarchie zwischen Praktikantin und Kind verkleinert.
    „Ich habe eine ganz tolle Idee…“ zeigt noch einmal, dass die Praktikantin versucht, den Jungen zu überreden, am Angebot teilzunehmen und ihn davon zu überzeugen, dass es Spaß macht, dieses Angebot wahrzunehmen. Zugleich zeigt sie sich als die Ideengeberin. Mit der Formulierung „Wir malen deine Hand an mit einer ganz schönen Farbe an und legen sie dann auf die Tapete. Du brauchst auch gar keine Angst haben . . .“, legt sie nahe, dass das Anmalen von Händen nichts Gefährliches ist und wirbt um das Vertrauen des Kindes. Allerdings ruft sie damit zugleich gerade jene Angstvorstellung auf, die sie eigentlich dementieren will. Auch die Formulierung „wir legen deine Hand“, als sei diese ein vom Körper getrenntes Objekt, könnte Unverständnis und Angst bei dem Kind hervorgerufen haben. Zudem stellt sich die Frage, wer „wir“ beim Hand anmalen ist, denn eigentlich möchte die Praktikantin die Hand von Julian anmalen. Dies lässt sich als Versuch verstehen, ein Arbeitsbündnis herzustellen und verweist zugleich auf eine vorgestellte Gemeinschaft.
    Möchte die Praktikantin die Beteiligung von Julian am Angebot, wäre z.B. möglich gewesen, Julian zunächst zu zeigen, was die anderen Kinder genau gemacht haben, um ihn dann zu fragen, ob er das auch möchte. Denn so sähe er das Endprodukt und bekäme ein klareres Verständnis vom Angebot. Eine weitere Möglichkeit wäre es abzuwarten, bis Julian selbst auf das Geschehen zukommt und Interesse zeigt. Später sagt Julian „Nein!“, obwohl keine Frage gestellt wurde, die eine solche Antwort zulässt. Er verneint damit das gesamte Angebot. Wäre es wirklich freiwillig, ließe sich darauf reagieren, indem man sein „Nein!“ akzeptierte oder nach Gründen für die Ablehnung fragte. Wäre das Angebot allerdings wirklich freiwillig, wäre auch eine solche Rechtfertigung unnötig. In der Situation jedenfalls wird das „Nein!“ des Kindes nicht akzeptiert, denn die Praktikantin versucht weiter, Julian vom Angebot zu überzeugen. Dazu nimmt sie das Kind in den linken Arm, was sich als körperliche Zuwendung, aber auch als körperliche Machtausübung verstehen lässt, als eine Art ’sanfte Gewalt‘.
    Wir versuchten uns die Situation umgekehrt so vorzustellen, dass ein Erwachsener von einem Kind in den Arm genommen werden würde. Dies war schwer vorstellbar und verdeutlichte uns das generationale pädagogische (Macht-)Verhältnis.
    Mit der Formulierung „die anderen Kinder haben es auch schon gemacht“, wird der Unterschied zwischen Julian, dem Kind, dass das Angebot nicht wahrnimmt, und den ,anderen‘ Kindern gemacht, die bereits die Erwartungen erfüllt haben. Das schließt eine ausgrenzende Bewertung der anderen als besser ein und suggeriert, dass man bei Nichterfüllung der pädagogischen Erwartungen ein schlechtes Gewissen haben müsste. Mit der Formulierung „wenn die Hände ganz bunt sind“, wird die Annahme vertreten, dass die Kinder Farbe für ihre Hände aussuchen können. Zumindest innerhalb des Angebotes gäbe es damit eine Wahlmöglichkeit.
    Eingreifen der Kollegin: Zeilen 20-22
    Der spätere Versuch der Kollegin, Julian von seiner Beteiligung am „Angebot“, mit ähnlicher Strategie, zu überzeugen, misslingt ebenfalls.
    Eingreifen der Chefin: 22-29
    Anschließend betritt die „Chefin“ den Raum, die verdeutlicht, dass Zeitdruck wegen des kurz bevorstehenden Morgenkreis herrscht. Das lässt darauf schließen, dass sie eine bestimmte zeitliche Ordnung in der Kita als bedeutsam wahrnimmt. Schließlich setzt sich die Chefin über die Praktikantin hinweg, übernimmt die Führung und übergeht die Ablehnung von Julian, indem sie ihn einfach auf den Stuhl setzt. Mit dem Ausspielen körperlicher Überlegenheit wendet sie zugleich physische Macht an. Aus dem Satz „So machen wir das hier!“, lässt sich schließen, dass der Zwang zur Teilnahme an „Angeboten“ durch Kinder und das Durchsetzen des Willens der Chefin zur Routine in der Einrichtung gehört. Die Leiterin repräsentiert mit dem „Wir“ die Einrichtung als Ganzes. Zugleich richtet sich der Satz aber auch an die Praktikantin, der damit die aus Sicht der Chefin herrschenden Regeln gezeigt werden und zugleich auch, dass diese es ist, die für die Einhaltung dieser Regeln steht – eine ausgesprochen hierarchische Ordnung also, in der die Praktikantin als unwissende „Newcomerin“ platziert und aus dem „Wir“ ausgeschlossen wird.
    Abschließend stellten wir fest, dass das Ziel der Chefin und das der Praktikantin, aber auch das der Kollegin, nicht im vollständigen Kontrast zueinander stehen, denn beide wollten alle Kinder am Angebot beteiligen. Somit gilt die Beteiligung aller Kinder in diesem Moment als wichtiger als das momentane, individuelle Bedürfnis des Kindes (das mit der eigentlich unterstellten Wahlmöglichkeit des „Angebots“ beansprucht wurde zu berücksichtigen).
    Dabei können verschiedene Orientierungen eine Rolle spielen. Möglich wäre etwa einem Ordnungsarrangement der Kita gerecht werden zu wollen; alle Kinder auf der Tapete ‚verewigen‘ zu wollen, um unangenehmen Fragen der Eltern aus dem Weg zu gehen, falls ihr Kind fehlen sollte; Anerkennung der dort arbeitenden Kollegen zu erhalten; oder auch allein, um das Hierarchieverhältnis stärker zu verdeutlichen und zu zeigen, wer hier das Sagen hat.

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