Reflexion der Situation „Zwischen Freiheit und Zwang“

Für die Analyse der Situation ‚Zwischen Freiheit und Zwang‘ wurde die Situation in drei Abschnitte unterteilt, die im Folgenden gebündelt dargestellt und auf kindheitswissenschaftliche Sichtweisen bezogen werden. Anfänglich wird die Ausgangssituation behandelt (Z. 1-7). Abschnitt zwei befasst sich mit der Interaktion der Praktikantin mit Julian (Z. 7-17) und der letzte Abschnitt beinhaltet das Eingreifen anderer Akteurinnen der Krabbelgruppe in die Situation (Z. 17-25).

Zu Beginn der Praxissituation, in den Zeilen 1-7, beschreibt die Verfasserin die Ausgangssituation sowohl des Praktikums als auch des Angebotes. Rahmenbedingungen wie das Land, die Einrichtung und das Alter der Kinder werden explizit mitgeteilt. Erläutert wird von der Verfasserin zudem, dass die Praxissituation während eines Praktikums stattfand.[1] Unklar bleibt in welchem Rahmen das Praktikum durchgeführt wurde, da die Wortwahl „absolviert“ (Z. 2) impliziert, dass sie das Praktikum nicht aus eigenem Interesse heraus antrat, sondern es eine vorgegebene Pflicht war, die bewältigt werden musste. Interessant wäre hier die Information, wie lange sich die Praktikantin bereits in der Einrichtung befand, um das bestehende oder nicht bestehende Vertrauensverhältnis zu den Kindern nachvollziehen zu können. Die Praktikantin hatte sich „während des Praktikums dazu entschieden, ein Angebot mit den Kindern zu machen“ (Z. 2-3). Die Darstellung der Praktikantin, dass sie sich „dazu entschieden“ (Z. 2-3) hatte das Angebot durchzuführen assoziiert, dass die Idee für das Angebot die freiwillige, selbstständige Entscheidung der Praktikantin war und die Kinder allem Anschein nach bei der Entscheidung nicht mit einbezogen wurden. Das Angebot, mit „den Jungen und Mädchen“ (Z. 4) Handabdrücke auf einer Tapete zu verewigen, wird sachlich und mit expliziter Betonung der Geschlechter beschrieben. Hervorzuheben ist, dass die Praktikantin ausdrücklich mitteilt, dass die „Jungen und Mädchen ihre Handinnenflächen mit verschiedenen Farben, die sie sich selbst aussuchen konnten“ (Z. 4-5) gemeinsam mit ihr bemalten. Die Kinder wurden demzufolge in die Entscheidung, welches Angebot sie durchführen möchten, nicht mit einbezogen, jedoch durften sie sich die Farben, mit denen sie ihre Handinnenflächen bemalten, selbst aussuchen. In diesem Zusammenhang kann ein Bezug zur Kinderrechtskonvention (KRK) hergestellt werden, welche 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde und 1992 in Österreich in Kraft trat (vgl. Deutsches Institut für Menschenrechte 2020, S. 1 und vgl. Bundeskanzleramt o.J., o.S.). Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) ist als eine spezifische Ausformung der Menschen-rechte zu begreifen, in welcher besondere Schutz-, Fürsorge- und Beteiligungsrechte von Kindern formuliert sind. Auch wenn es alle Rechte gleichrangig zu beachten gilt, soll hier insbesondere Artikel 12 der UN-KRK hervorgehoben werden, welcher die Berücksichtigung des Kindeswillens beinhaltet. Kinder haben das Recht, ihre Meinung zu äußern, gehört zu werden und an Entscheidungen, die sie betreffen, beteiligt zu werden (vgl. ebd., S. 1-3). Bei der Entscheidung für das Angebot, welches sich die Praktikantin für die Kinder überlegte, wurden vermutlich keine Kinder mit einbezogen, auch wenn sie gemäß Artikel 12 der UN-KRK ein Recht darauf gehabt hätten, da es eine Entscheidung war, die die Kinder explizit betraf. Dies kann daran liegen, dass die Praktikantin diese Entscheidung nicht angemessen für das Alter und die Reife der null bis dreijährigen Kinder empfand, die Meinung der Kinder durch die selbstständige Wahl der Farbe aber dennoch berücksichtigen wollte. Mit dem Satz „[n]un fehlte nur noch der Handabdruck von Julian“ (Z. 7, Hinzufügung L.G.), teilt die Praktikantin mit, dass alle Kinder bereits Handabdrücke gemacht haben und, um das Angebot abschließen zu können, nur noch Julians Handabdruck fehlte. Durch diese Formulierung verliert das Angebot an Freiwilligkeit. Offenbart wird eine normative Erwartung, dass das Angebot von allen Kindern ausgeführt werden sollte.

Dass es sich nicht um ein freiwilliges Angebot handelte, verdeutlichen die Zeilen 7-17, welche die maßgebliche Interaktion der Praktikantin mit Julian beinhalten. Der Abschnitt beginnt mit dem gemeinsamen Eintreffen von Julian und seiner Mutter in der Krabbelgruppe. Anschließend wurde ihm von der Praktikantin etwas Zeit gegeben „um in aller Ruhe anzukommen“ (Z. 8). Unklar bleibt dabei, um wieviel Zeit es sich bei „etwas Zeit“ (Z. 8) handelte, wie die Verabschiedung von der Mutter verlief und was die Praktikantin unter „in aller Ruhe anzukommen“ (Z. 8) versteht. Im Anschluss daran begann die Praktikantin, Julian von dem Angebot zu überzeugen, indem sie sich auf Augenhöhe zu ihm hinkniete. Durch diese Handlung verkleinerte sie die bestehende Hierarchie zwischen ihr und Julian. Dass die Hierarchie weiterhin bestand, wird dadurch erkennbar, dass es die Praktikantin war, die entschied, welche Tätigkeit Julian als nächstes aufnehmen sollte. Dies beruht unter anderem darauf, dass das Verhältnis zwischen der Praktikantin und Julian generational strukturiert ist. Das Handlungsvermögen (agency, vgl. Eßer 2023, S. 51 f.) von Julian ist untrennbar mit den Zuschreibungen durch Erwachsene, hier der Praktikantin, verbunden. Von ihnen wird er als Kind positioniert, und positioniert sich ihnen gegenüber selbst als Kind. Durch Julians Positionierung innerhalb der generationalen Ordnung werden die Möglichkeiten und Grenzen seines Handelns erkennbar (vgl. Alanen 2005, S. 80 und vgl. Eßer 2023, S. 51f.). Im weiteren Verlauf der Interaktion erklärte die Praktikantin Julian ihre Idee und versuchte, ihn davon zu überzeugen seine Hand gemeinsam „mit einer ganz schönen Farbe“ (Z. 10) anzumalen und anschließend „auf die Tapete“ (Z. 10) zu legen. Der Satz „[d]u brauchst auch gar keine Angst zu haben, die Farbe waschen wir wieder ab mit Wasser“ (Z. 10-11, Hinzufügung L.G.) impliziert, dass das Angebot etwas vermeintlich Gefährliches ist und wird durch die Verwendung des Begriffes „Angst“ (Z. 11) negativ konnotiert. Dies weckt die Angstvorstellung, die die Praktikantin eigentlich dementieren wollte. Julian machte explizit deutlich, dass er kein Interesse an dem Angebot hatte, indem er die Praktikantin mit „ernster Miene“ (Z. 12) ansah und „Nein!“ (Z. 12) sagte. Mit dieser Reaktion versucht Julian seine Handlungsmacht deutlich zu machen. Er zeigt sein Handlungsvermögen und beabsichtigt, nicht nur ein passiver Akteur der Situation zu sein, sondern sie aktiv mitzugestalten, indem er seine Meinung kundtut. In der folgenden Interaktion versucht die Praktikantin, Julian noch mehrmals zu überzeugen. Durch die erneuten Versuche der Praktikantin, Julian zu überreden, wurde sowohl sein Handlungsvermögen, aufgrund seiner Position innerhalb der generationalen Ordnung (vgl. Alanen 2005), eingeschränkt als auch sein Recht auf Berücksichtigung seines Willens gemäß Artikel 12 der UN-KRK übergangen. Die Frage nach dem Grund seiner Ablehnung wurde von der Praktikantin nicht gestellt. Eine Methode der Praktikantin, um Julian von dem Angebot zu überzeugen, war die wiederholte Herstellung von Körperkontakt. Dies teilt sie explizit mit, indem sie erläutert, dass sie Julian in ihren linken Arm (Z. 12) oder an die Hand nahm (Z. 15). Diese Handlung lässt mehrere Interpretationen zu – zum einen körperliche Machtausübung seitens der Praktikantin, da Julian sich nicht so leicht aus der Situation wegbewegen konnte, zum anderen kann sie als körperliche Zuwendung interpretiert werden, die Julian Sicherheit geben sollte. Die Tatsache, dass Julian seine Hand zurückzog und erneut „nein“ (Z. 17) sagte, suggeriert, dass der Körperkontakt von ihm nicht erwünscht war. Hier wäre es interessant zu wissen, ob Julian die Praktikantin bereits kannte und ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte oder ob eine für ihn fremde Person versuchte Körperkontakt herzustellen. Durch das Zurückziehen seiner Hand zeigte Julian defensives Handlungsvermögen. In dieser Situation ist das Machtungleichgewicht, aufgrund der generationalen Ordnung (vgl. Alanen 2005), deutlich erkennbar. Eine weitere Methode der Praktikantin ihn zu überzeugen war der Vergleich mit anderen Kindern. Die Formulierungen „die anderen Kinder haben das auch schon gemacht“ (Z. 13) und „wir schauen uns mal an, wie die anderen Kinder das gemacht haben“ (Z. 15-16) implizieren, dass die anderen Kinder die Erwartungen der Praktikantin bereits erfüllt haben und Julian bei Nichterfüllung ein schlechtes Gewissen haben müsste. Allerdings sollte die Praktikantin nicht davon ausgehen, dass das Angebot, die Hände mit Farbe zu bemalen, bei allen Kindern auf Interesse stößt, denn jedes Kind hat ein individuelles Empfinden bei dieser Tätigkeit, welches es zu berücksichtigen gilt.Da alle Versuche der Praktikantin, Julian von dem Angebot zu überzeugen misslangen, griffen in den Zeilen 17-25 weitere Akteurinnen der Krabbelgruppe ein: beginnend bei einer Kollegin bis hin zur Chefin, der höchsten Instanz der Einrichtung. Von der Praktikantin wird explizit mitgeteilt, dass auch die Kollegin vergebens versuchte, Julian „davon zu überzeugen, es sich anzusehen oder gar zu probieren“ (Z. 17-18). Dies impliziert, dass auch sie Julians Meinung, das Angebot abzulehnen, überging, indem sie erneut versuchte, ihn davon zu überzeugen. Allerdings beharrte Julian weiterhin auf seiner Meinung und widersetzte sich dem Überzeugungsversuch, indem er sich weigerte, das Angebot auch nur anzusehen. Im Anschluss daran betrat die Chefin die Krabbelgruppe und beobachtete einen weiteren Versuch der Praktikantin, welcher darin bestand, Julian an der Hand zu nehmen. Auch in dieser Situation wurde Julians Ablehnung in Bezug auf das Angebot und den Körperkontakt von der Praktikantin übergangen. Die Chefin bemerkte die Situation und verdeutlichte den Zeitdruck aufgrund des bevorstehenden Morgenkreises, welcher um neun Uhr beginnen sollte. Dies lässt darauf schließen, dass es in der Krabbelgruppe einen Zeitplan gab, welchen es ausnahmslos einzuhalten galt. Angesichts des Zeitdrucks fragte die Chefin die Praktikantin nach einer Erklärung für die Situation. Die Praktikantin erklärte ihr Vorhaben mit Julian und merkte an, dass sie „ihn aber auch nicht dazu zwingen wollte“ (Z. 22). Hier ist fraglich, ob das mehrfache Übergehen von Julians Meinung nicht bereits eine Art Zwang beinhaltete. Schließlich setzte sich die Chefin über die Praktikantin hinweg, übernahm die Situation und überging Julians Ablehnung. Sie begründete dies mit dem Zeitdruck und bevorstehenden Morgenkreis. Hierbei wird das Machtverhältnis zwischen der Praktikantin und Chefin deutlich, welches möglicherweise auch ein generationales Verhältnis widerspiegelt. Mit dem Hinwegsetzen über die Praktikantin vergegenwärtigte die Chefin die hierarchische Ordnung innerhalb der Krabbelgruppe und spielte zugleich ihre institutionalisierte Macht aus. Gemäß Popitz (1986) ist institutionalisierte Macht geprägt von drei Tendenzen. Die Chefin verkörpert diese institutionalisierte Macht, welche sich durch Entpersonalisierung, Formalisierung und Integrierung auszeichnet.  Ihre Position wird einerseits entpersonalisiert, denn die Chefin hat die Macht nicht als Persönlichkeit, sondern aufgrund ihrer Funktion als höchste Instanz innerhalb der Krabbelgruppe. Zudem wird die Macht aufgrund der Formalisierung ausgeübt und orientiert sich an Regeln, Routinen, zeitlichen Ordnungen oder Ritualen. Ein drittes Merkmal, durch welches die Chefin ihre Macht erlangt, ist die Integrierung des Machtverhältnisses in die bestehende Ordnung innerhalb der Krabbelgruppe. Sie ist eingebunden in ein soziales Gefüge, das durch sie gestützt wird und sie stützt (vgl. Popitz 1986, S. 38f.). Ihre machtvolle Position äußert die Chefin nicht nur gegenüber der Praktikantin, sondern auch gegenüber Julian. Sie nutzte ihre physische Macht aufgrund ihrer Position innerhalb der generationalen Ordnung (vgl. Alanen 2005) und ihrer körperlichen Überlegenheit gegenüber Julian aus, um ihren Willen durchzusetzen, indem sie ihn unter den Armen packte und auf einen Stuhl setzte. Hierbei handelt es sich gemäß Popitz um das Ausüben von Aktionsmacht (vgl. ebd., S. 68). Die Wortwahl „packte“ (Z. 24) kann als eine gewaltvolle Handlung assoziiert werden und verdeutlicht den Zwang des Angebotes. Dies stellt einen Verstoß gegen Artikel 19 der UN-KRK dar, welcher die Kinder vor jeglicher Gewaltanwendung schützen soll (vgl. Artikel 19 UN-KRK, Übersetzung L.G.). Diese adultistische Handlung veranschaulicht das Machtungleichgewicht zwischen Julian und der Chefin und beinhaltet eine Diskriminierung aufgrund seines Alters und der körperlichen Unterlegenheit. Adultismus beruht demgemäß auf dem Machtungleichgewicht zwischen Erwachsenen und Kindern.

Die Kindheitswissenschaftlerin Alderson (2020) erläutert: „Genauso wie es ›Erwachsene‹ nur geben kann, wenn es ›Kinder‹ gibt (sonst wären alle einfach nur ›Menschen‹) ist der ›Adultismus‹ auf die unterlegene Altersgruppe der Kinder angewiesen, um die Behauptung zu untermauern, dass Erwachsene überlegen und zuverlässig sind und dass es daher normal, natürlich und moralisch ist, dass Erwachsene vermeintlich unberechenbare, unverantwortliche Kinder kontrollieren sollten“ (Alderson 2020, S. 539 zit. nach: Liebel/Meade 2023, S. 21).

Adultismus zeigte sich aber bereits im Verhalten der Praktikantin, sowie der Kollegin, die Julians Meinung durchweg ignorierten. Die Chefin spitzte das Ganze zu, indem sie ihre Macht nicht nur verbal, sondern auch grob körperlich ausspielte. Der Satz der Chefin „[s]o machen wir das hier!“ (Z. 24-25, Hinzufügung L.G.) welchen sie äußerte, während sie Julian auf den Stuhl setzte, kann als eine Ermahnung sowohl von Julian als auch der Praktikantin interpretiert werden. Er impliziert den Zwang zur Teilnahme an Angeboten und das Hinwegsetzen über die Meinung der Kinder, was allem Anschein nach zur Routine in der Einrichtung gehörte, da mit der Wortwahl „wir“ (Z. 25) von ihr vermutlich die gesamte Krabbelgruppe gemeint wurde. Dort vorherrschende Regeln im Umgang mit solchen Situationen wurden durch diese Handlung der Chefin aufgezeigt und sollen auch von der unwissenden, eventuell noch neuen Praktikantin als Teil der Krabbelgruppe eingehalten werden. Offenbart wird eine normative Erwartung an die Praktikantin, die durch die machtvolle Position der Chefin, als eine Autoritätsperson innerhalb der Einrichtung, verstärkt wird.

Handlungsempfehlungen aus kindheitswissenschaftlicher Sicht

Die UN-KRK dient den Kindheitswissenschaftler:innen als handlungsleitende Grundlage für die Tätigkeit in kindheitspädagogischen und kindheitswissenschaftlichen Arbeitsfeldern (vgl. Franz 2021, S. 57). Kindheitswissenschaftler:innen ermöglichen eine spezielle Sicht auf die Beteiligung von Kindern an allen sie betreffenden Entscheidungen, den Machtverhältnissen in die Kinder respektive Kindheit eingebettet ist, der Haltung gegenüber Kindern als eigenständige Akteur:innen sowie die Anerkennung von Kindern als Träger:innen eigener Rechte. Bezogen auf die in der Situation beschriebenen Problemwahrnehmungen, werden kindheitswissenschaftliche Handlungsempfehlungen auf Grundlage der Master-Arbeit „Kindheitswissenschaften als Kinderrechtsprofession? Sinn, Möglichkeiten und Konsequenzen einer eigenständigen Professionalisierung“ von Sonja Franz (2021) formuliert, deren Fokus auf eben diesen Themenbereichen liegen.

Die Ausrichtung alltäglicher professioneller Beziehungen von Akteur:innen kindheitspädagogischer und kindheitswissenschaftlicher Arbeitsfelder an der UN-KRK ermöglicht Kindern, ein bedürfnisgerechtes und anerkennungsreiches Zusammenleben, bei welchem ihre Rechte wahrgenommen werden (vgl. Franz 2021, S. 66). Die Praktikantin in der Praxissituation war bemüht, die Kinder in das Angebot mit einzubeziehen. Dennoch wäre, damit es sich nicht nur um symbolische Partizipation handelt, ein Einbezug in die Wahl des Angebotes insbesondere für die älteren Kinder der Krabbelgruppe wichtig gewesen, da Kinder diesen Alters ihre Meinung in der Regel selbstständig äußern und vertreten können. Dies gilt auch für den zweijährigen Julian, welcher in der Praxissituation seine Meinung aktiv kundtut. Falls es hierbei ihrerseits aufgrund der Erfahrung mit dem Alter der Kinder zu Unsicherheiten kam, kann eine kollegiale Beratung[2] hilfreich sein, in der gemeinsam mit den pädagogischen Fachkräften und der Chefin Partizipation im Kontext kindlicher Entwicklung hinterfragt wird und von den erfahrenen Fachkräften Hilfsmittel an die Hand gegeben werden, die es der Praktikantin ermöglichen, die Kinder ihrer Entwicklung angemessen zu beteiligen (vgl. Franz 2021, S. 74). Auch wenn die Handlung der Chefin impliziert, dass kindlicher Partizipation kein besonders hoher Stellenwert in der Einrichtung beigemessen wird. Die kollegiale Beratung könnte auch im Nachhinein eine kritische Reflexion des Handelns aller Akteurinnen in der Situation ermöglichen.

Weiterführend hätte die Praktikantin Julian nach einem Grund für sein Desinteresse fragen können. Möglicherweise existierte ein banaler Grund, welcher sich durch einen anderen Zeitraum, ein anderes Aufzeigen der Tätigkeit oder eine Abwandlung des Angebotes hätte beheben lassen können. Falls nicht, wäre es wichtig gewesen, dass die Praktikantin Julians Meinung akzeptiert und ihn nicht mehrfach zu überreden versucht. Wie bereits in Kapitel vier angemerkt, gilt es gemäß Artikel 12 der UN-KRK den Kindeswillen bei allen Entscheidungen, die das Kind selbst betreffen, zu berücksichtigen.

Deutlich werden in der Praxissituation die bestehenden Machtverhältnisse aufgrund der Hierarchie innerhalb der Einrichtung und der generationalen Ordnung (vgl. Alanen 2005), welche Kinderrechtsverletzungen bedingen können. Macht spielt in pädagogischen Beziehungen eine elementare Rolle. Die Abgabe von Macht und damit ein pädagogisches Handeln auf Augenhöhe kann als Qualitätsmerkmal pädagogischer Einrichtungen im Sinne der UN-KRK bewertet werden (vgl. Franz 2021, S. 85). Es ist wichtig, dass die Praktikantin Julian als gleichwertig und als Träger von Rechten anerkennt. Daran ausgerichtete pädagogische Beziehungen grenzen die Macht, die in der Arbeit mit Kindern von Erwachsenen ausgeübt wird, automatisch ein. Zusätzlich sollten alle Akteur:innen kindheitspädagogischer und kindheitswissenschaftlicher Arbeitsfelder ihre Machtposition und Handlungen stets reflektieren, um Kinderrechtsverletzungen vorzubeugen.

Literatur

Alanen, Leena (2005): Kindheit als generationales Konzept. In: Hengst, Heinz/Zeiher, Helga (Hrsg.): Kindheit soziologisch. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. S. 65- 82.

Bundeskanzleramt (o.J.): Kinderrechte der Vereinten Nationen (VN).

https://www.bundeskanzleramt.gv.at/agenda/familie/kinderrechte/un-kinderrechtekonvention.html (zul. abgerufen am 07.08.2023).

Deutsches Institut für Menschenrechte (2020): UN-Kinderrechtskonvention. Factsheet.

https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Fact_Sheet/Factsheet_UN-KRK.pdf (zul. abgerufen am 07.08.2023).

Eßer, Florian (2023): Von ‚Sozialisation‘ zu ‚Agency‘ – und wieder zurück? Ein Diskussionsbeitrag aus kindheitstheoretischer Perspektive. In: Scheid, Claudia/ Silkenbeumer, Mirja/ Zizek, Boris/Zizek, Lalenia (Hrsg.): Sozialisationstheorie und -forschung revisited. Ein Paradigma im Lichte der neuen Kindheits- und der  Jugend-forschung. Wiesbaden: Springer VS. S. 43-59.

Franz, Sonja (2021): Kindheitswissenschaften als Kinderrechtsprofession? Sinn, Möglichkeiten und Konsequenzen einer eigenständigen Professionalisierung, unveröffentlichte Master-Arbeit, Hochschule Magdeburg-Stendal.

General Assembly of the United Nations (20.11.1989): A/RES/44/25. Convention on the Rights of the Child. Verfügbar unter: https://www.ohchr.org/sites/default/files/crc.pdf (zul. abgerufen am 19.08.2023).

Liebel, Manfred/Meade, Philip (2023): Adulitmus. Die Macht der Erwachsenen über die Kinder – Eine kritische Einführung. Berlin: Bertz & Fischer.

Popitz, Heinrich (1986): Phänomene der Macht. Autorität – Herrschaft – Gewalt. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).

Schindler, Wolfgang (2023): Kollegiale Beratung. Verfügbar unter:

https://www.socialnet.de/lexikon/Kollegiale-Beratung (zul. abgerufen am 18.08.2023).

Die vollständige Arbeit, einschließlich des methodischen Vorgehens, finden Sie hier.

 

Empfehlung zur Zitation:

Gehweiler, Lajana (2023): Reflexion zur Situation „Zwischen Freiheit und Zwang“. In: Hochschule Magdeburg-Stendal/Kompetenzzentrum Frühe Bildung (Hrsg.): Online-Forum „Praxis reflektiert“. https://projekte2.hs-magdeburg.de/praxisreflektiert/educase/zwischen-freiheit-und-zwang/

 

 

[1] Im Folgenden wird die Verfasserin als Praktikantin bezeichnet. Es handelt sich um dieselbe Person.

[2] Der Fokus der kollegialen Beratung liegt auf der Lösung beruflicher Problemstellungen in einem organisierten Rahmen, mit definierten Orten, Zeiten und Regeln innerhalb einer Gruppe, die ein gemeinsamer beruflicher Kontext verbindet (vgl. Schindler 2023, o.S.).


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